Les obligations imposées aux personnes privées par les droits fondamentaux
Legal constraints on individuals arising from fundamental rights
Grundrechtsbindungen Privater
Dass Private nicht nur Träger und Hersteller, sondern auch Gefährder der Freiheit sein können, ist in ganz Europa bekannt. Vergleichbare Problemkonstellationen werden auf der nationalen wie auch auf inter- und supranationaler Ebene diskutiert. Unterschiedlich sind jedoch – auch in Frankreich und Deutschland – die rechtstheoretischen und -dogmatischen Figuren, mit welchen derartigen Herausforderungen bewältigt werden soll. Der deutsche Weg ist die sog. „Dritt-“, Ausstrahlungs- oder Horizontalwirkung der Grundrechte.
I. Der Ausgangspunkt: Kollisionen von Freiheits- und Gleichheitsgarantien
Unser Problem ist keine querelle allemande. „Der Gerichtshof wiederholt, dass Art. 8 EMRK im Wesentlichen darauf abzielt, den Einzelnen gegen willkürliche Eingriffe des Staates zu schützen, den Staat aber nicht nur verpflichtet, solche Eingriffe zu unterlassen: Zu dieser negativen Verpflichtung können positive Verpflichtungen kommen... Dazu können Maßnahmen zum Schutz des Privatlebens sogar im Verhältnis zwischen Privatpersonen untereinander gehören. ... Allerdings lassen sich die Grenzen zwischen den aus Art. 8 EMRK beruhenden Handlungs- und Unterlassungspflichten des Staates nicht genau ziehen. Die anwendbaren Grundsätze sind aber ähnlich.“ Was der EGMR hier in eher apodiktischer und oberflächlicher Weise behauptet, lässt sich so zusammenfassen:
Die Rechte der EMRK können jedenfalls auch im Verhältnis unterschiedlicher Grundrechtsträger (hier: Presse einerseits – Person, über die berichtet wird, andererseits) Relevanz erlangen.
Diese Relevanz ist allerdings nicht identisch mit derjenigen zwischen Staat und Bürger und kann daher unterschiedliche Rechtsfolgen nahe legen.
Welche Rechtsfolgen dies aber sein können und wie sie sich zu den sonstigen Rechtsfolgen des Grundrechts verhalten, ist nicht sehr klar.
Was dort angedeutet wird, ist die in Deutschland viel diskutierte Drittwirkung der Grundrechte. Private können danach aus Grundrechten nicht nur berechtigt, sondern auf näher zu bestimmende Art und Weise auch verpflichtet sein. Dann wirken Grundrechte also nicht im Staat-Bürger-Verhältnis – die öffentliche Hand ist niemals berechtigt, schon gar nicht im Verhältnis zum Bürger –, sondern im Verhältnis Privater untereinander. Die schon 60 Jahre alte Diskussion ist inzwischen in eine neue Denkrichtung von den „grundrechtlichen Schutzpflichten“ eingemündet.
II. Unterschiedliche Wege zu Kollisionslösungen
1. Grundrechtsdogmatik in der Bundesrepublik: Unmittelbare und mittelbare Grundrechtsadressaten
Die deutsche Diskussion hierzu hat durch Art. 1 Abs. 3 GG ihre Richtung erfahren. Danach binden die Grundrechte „Gesetzgebung, Vollziehung und Rechtsprechung als unmittelbar geltendes Recht“. Der Text des Art. 1 Abs. 3 GG statuiert – jedenfalls allein – die Bindung der öffentlichen Hände. Wenn also die Staatsgewalten als Grundrechtsverpflichtete ausdrücklich genannt sind, Privatpersonen aber nicht, so stellte sich zahlreichen Juristen die Frage: Liegt darin eine Beschränkung der Grundrechtsverpflichtung auf den Staat? Sind also Private von der Grundrechtsverpflichtung ausgeschlossen?
Die Vorgeschichte spricht eher dagegen. Der Text geht auf Entwürfe zur Weimarer Verfassung (genauer: den später gestrichenen Art. 107 Entwurf V zur WRV) zurück, dem es allerdings allein um die Bindung aller Staatsgewalten an die Grundrechte gegangen war. Über die Grundrechtsbindung Privater fanden sich dort keinerlei Aussagen, wohl aber in zahlreichen Einzelgrundrechten der Verfassung, welche ohne Verpflichtungen jedenfalls bestimmter Privater gar nicht denkbar gewesen wären. Und in den Beratungen zu Art. 1 GG spielten eher die Menschenwürde und ihre Adressaten eine Rolle als diejenigen der „nachfolgenden Grundrechte“. Eindeutige Befunde ließen sich ihnen daher auch kaum entnehmen. Die Grundrechtsbindung Privater wurde im Parlamentarischen Rat gelegentlich thematisiert, aber niemals entschieden, und zwar weder positiv noch negativ.
Die Diskussionen in der Staatsrechtswissenschaft nahmen sich der Fragestellung stets sehr grundsätzlich an, und zwar auch dann, wenn es um die Beurteilung vergleichsweise einfacher Fälle ging. Wie ließe sich aus den uneindeutigen Befunden zum Text und zur Entstehungsgeschichte des Grundgesetzes eine methodisch korrekte Lösung ableiten? Eine solche wurde auf unterschiedliche Weise gesucht: Teils wurde aus Textbefunden einzelner Grundrechte (etwa: Art. 9 Abs. 3 S. 2 GG) der Schluss gezogen, eine allgemeine Beschränkung der Grundrechtsverpflichteten auf den Staat habe dem Verfassunggeber ferngelegen. Teils wurde aus den Regelungsbedürfnissen einzelner Rechtsgebiete – am Anfang standen insbesondere das Familien- und das Arbeitsrecht – eine grundrechtliche Prägung dieser Materien angenommen oder zumindest gefordert. Ein wiederum anderer Teil suchte die Lösung eher bei den Rechtsfolgen des Art. 1 Abs. 3 GG. Wenn die nachfolgenden Grundrechte die Staatsgewalt als „unmittelbar“ geltendes Recht bänden, so könnten sie andere Rechtssubjekte jedenfalls als „mittelbar“ geltendes Recht verpflichten. Dieser letzte Weg war im Ergebnis derjenige des BVerfG: Auch wenn in seinem grundlegenden Urteil von 1958 das Wort „mittelbar“ nicht vorkommt, so ist es doch zur Deutung der Gründe bestens geeignet und zu Recht vielfach herangezogen worden.
Private sind danach also keine unmittelbaren Grundrechtsadressaten, sie können jedoch mittelbare Grundrechtsadressaten sein. Dabei erwies sich die Formel von der „Mittelbarkeit“ als hinreichend flexibel, um die Voraussetzungen, den Umfang und die Rechtsfolgen der Bindung Privater differenziert, am jeweiligen Einzelfall und den ihn prägenden konkreten Rechtsnormen zu orientieren. Zusammenfassend bleibt zum Erkenntnisstand in der Bundesrepublik festzuhalten: Die These, dass Grundrechte ausschließlich die öffentlichen Hände binden und keinerlei Wirkung gegenüber Privaten begründen könnten, ist inzwischen nahezu verschwunden. Die vielfältige und berechtigte Kritik an den Gründen, auf welche die frühe Drittwirkungsrechtsprechung gestützt wurde – nämlich die Formel von den Grundrechten als Wertordnung – ist schwächer geworden, seit sich die Drittwirkungslehre mit der Schutzpflichtdogmatik weitgehend von jenen Wurzeln gelöst hat. In dieser neueren, heute fast allein maßgeblichen Variante sind die Grundrechte Aufträge und Richtlinien zum Schutz von Freiheit und Gleichheit durch Staatsorgane. Sie verpflichten
die Legislative als Schutzpflichten zum Freiheits- und Gleichheitsschutz durch Gesetze,
die Exekutive zum Schutz von Freiheit und Gleichheit durch Gesetzesanwendung,
die Justiz zum Schutz von Freiheit und Gleichheit durch Gesetzesauslegung.
„Mittelbare“ Grundrechtsbindung heißt in diesem Zusammenhang also insbesondere: Normalerweise erfahren Privatpersonen ihre Grundrechtsverpflichtung vermittelt durch grundrechtskonforme Gesetze und deren grundrechtskonforme Anwendung. Dass eine Privatperson unmittelbarer Adressat von Grundrechten wird, ohne dass dies in irgendeiner Form gesetzlich vermittelt wäre, ist auch in Deutschland nur ganz ausnahmsweise der Fall. Und zu ihrer Durchsetzung sind alle Gerichte – nicht allein das Bundesverfassungsgericht – im Rahmen ihrer Bindung an die Gesetze und das Grundgesetz (Art. 20 Abs. 3; 97 Abs. 1 GG) berechtigt und verpflichtet.
Des ungeachtet bleibt festzuhalten: Zwar sind Drittwirkungsfragen in Deutschland ebenso viel diskutiert wie nahezu alle anderen Verfassungsfragen auch. Und dennoch gibt es in unserer Frage einen wohl durchgängigen Konsens: Alle Seiten in dieser Diskussion begreifen die maßgeblichen Fragen als Grundrechtsfragen und die damit einhergehenden Folgeprobleme von der Schutzrichtung und der Reichweite des Grundrechtsschutzes als solche der Grundrechtsdogmatik.
2. Eine französische Position: Ausgestaltung von Freiheit und Gleichheit durch Gesetze
Eine neue Darstellung der „Droits fondamentaux et libertés publiques“ bezeichnet die Haltung der französischen Lehre gegenüber den genannten deutschen Ansätzen als „généralement hostile“. Zur Begründung führt sie zu den Rechtsbeziehungen zwischen Privatpersonen aus: „L’application des droits fondamentaux s’opère par la loi, par effet horizontal indirect, et rarement par l’application directe d’une source supra législative“. So unterschiedlich die Ebenen, so vergleichbar die Terminologien: Was in Deutschland als „unmittelbar“ bzw. „mittelbar“ qualifiziert wurde, erscheint französisch mit den Formulierungen „direct“ bzw. „indirect“. Aber wo ist der Unterschied in der Sache? Die Sachprobleme jedenfalls sind dieselben: Kollisionen zwischen Pressefreiheit und Privatsphäre; Kollisionen zwischen unterschiedlichen Versammlungen oder Versammlungen und dem Straßenverkehr; und Arbeitskämpfe schädigen auch in Frankreich die jeweilige Gegenseite.
Französische Darstellungen sehen das Problem nicht primär in der Frage nach den Grundrechtsadressaten, sondern vielmehr in der Frage nach den Rechtsfolgen der Grundrechte. Wenn diese etwa ein „Freiheit“ garantieren, so stellen sich dort zwei Grundfragen: Was heißt Freiheit? Und wie kann man sie herstellen? (1) Eine Grundrichtung wird als „liberale“ bezeichnet: Danach kann man Freiheit begreifen als Maximierung individueller Handlungsmöglichkeiten, auch zulasten Dritter und der Allgemeinheit. Dann ist die Freiheit umso größer, je weiter der Handlungsraum Einzelner reicht. Dass es nur Wenige sind, die diese Freiheit dann noch ausüben können, ist danach gleichgültig, denn auch dieser Zustand ist eine Folge der Freiheit. Eine solche Freiheit ist dann die größtmögliche und sich gleichsam selbst vergrößernde Chance individueller Selbstverwirklichung auf Kosten Anderer. Um es gleich zu sagen: Dies ist nicht die in der französischen Grundrechtslehre vorherrschende Position. (2) Die andere Grundrichtung ist nicht so eindeutig bezeichnet, man könnte sie „soziale“ oder „demokratische“ Richtung nennen. Danach ist Freiheit zwar gleichermaßen individuell. Doch ist sie – verstanden als Grundregel einer demokratische Gesellschaft – auch ein politisches Prinzip: Eine solche Freiheit denkt immer die Freiheit der Anderen mit. Die Gesellschaft ist frei, wenn Alle oder jedenfalls möglichst Viele frei sind. Ein solcher Zustand stellt sich nicht von selbst ein oder her, und erst recht bleibt er sich nicht von selbst stabil. Er bedarf vielmehr der Zuordnung, Abwägung und des Rechts, welches auch bei Geltung der Grundrechte nicht einfach da ist, sondern gesetzt werden muss. Und dies ist eine Aufgabe des demokratischen Gesetzgebers. Daraus folgt eine Zuordnung von Freiheit und Demokratie, die – anders als in Deutschland – nicht traditionell negativ, sondern positiv ist. Indem der demokratische Gesetzgeber Freiheiten zuweist und garantiert, stellt er den grundrechtlich intendierten Zustand her, ggf. auch auf Kosten der individuellen Freiheit Einzelner.
Unterschiedlich nuanciert ist dann auch die Antwort auf die Frage, auf welche Weise die Freiheit vom Staat garantiert werden kann. Der ältere deutsche Ausgangspunkt, wonach Grundrechtsschutz am besten durch staatliches Unterlassen geschieht und Freiheitsschutz durch gesetzliches Handeln einer besonderen Rechtfertigung bedarf, wird in Frankreich am ehesten der liberalen Position zugeordnet. Dort sind Herstellung und Garantie grundrechtlich intendierter Zustände durch demokratisches Gesetz eine Normalität. Zusammenfassend lässt sich festhalten: Was also in Deutschland als Grundrechtsproblem, namentlich als Problem des Grundrechtsverpflichteten, erscheint, wird in Frankreich wohl eher als ein Freiheitsproblem gesehen. Diese Freiheit ist grundrechtlich garantiert, aber dort eben nicht ausbuchstabiert. Hier setzt die Frage nach den Rechtsfolgen, eben der garantierten Freiheit und Gleichheit, ein. Was die Grundrechte nach französischer Lesart selbst nicht geleistet haben und wohl auch nicht leisten können, ist dort eine Aufgabe des Gesetzgebers. Die horizontale Dimension von Freiheitsgewährleistung ist dann eine Leistung der Legislative.
Man kann die Beschreibung der französischen Diskussion aber nicht nur grundrechtstheoretisch, sondern auch grundrechtsdogmatisch vornehmen. Sie geht von anders gearteten Grundrechtsbegriffen aus. In Deutschland ist das Grundrecht identisch mit einer Garantie, welche im Grundgesetz statuiert ist, deshalb einen besonderen Rang und eine besondere Durchsetzungsinstanz, das Bundesverfassungsgericht, aufweist. In Frankreich besteht eine Tendenz, den Grundrechtsschutz nicht allein im historisch tradierten Verfassungstext mit ein en traditionsreichen Formeln und seinen knappen Wortlauten zu verorten. Vielmehr wird dort die Rechtsstellung der Menschen im Staat eher konstituiert durch die Summe dieser Garantien und die zu ihrer Umsetzung und Ausführung erlassenen Gesetze. Dieser Normenkomplex garantiert nicht im deutschen Sinne das „Grundrecht“, sondern die umfassender zu verstehende „liberté publique“. Sie ist notwendigerweise gesetzlich ausgestaltet, und zwar nicht allein im Staat-Bürger-Verhältnis, sondern auch im Verhältnis der Menschen untereinander. Ihre Freiheits- und Gleichheitsschutz kommt so also in gesetzlicher Form bei den Berechtigten an und ist damit zugleich gesetzlich ausgestaltet. Eine von dieser abweichende, unmittelbar verfassungsrechtliche „Grundrechtsgarantie“ wird demgegenüber kaum als eigenständige Quelle von Rechten und Pflichten anerkannt und daher auch von den Gerichten kaum angewandt. „Drittwirkung“ ist in einem solchen Denken gesetzlich begründete und vermittelte Verteilung von Freiheit und Gleichheit und damit primär eine Aufgabe des Gesetzgebers. Erst sekundär ist sie dann auch eine solche von Vollziehung und Gerichte im Rahmen ihrer Gesetzes-, nicht hingegen daneben einer unmittelbaren Verfassungsbindung.
Jene Zusammenfassung wichtiger Äußerungen aus unserem Nachbarland war gewiss sehr deutsch, kein Franzose würde sie so vornehmen. Aber aus ihr lässt sich für die deutsche Diskussion etwas lernen. Die Problemsicht ist in beiden Rechtssystemen ähnlich. Und die Theorien nähern sich vielfach einander an. Eine zentrale Anwendungsvoraussetzung des deutschen Modells ist die Grundannahme eines lückenlosen Freiheits- und Gleichheitsschutzes im Grundgesetz, also eines geschlossenen Grundrechtskataloges. Wer die verfassungsrechtlichen Verbürgungen eher als fragmentarisch, also als wichtige Grundelemente, aber keineswegs vollständige und umfassende Menschenrechtsgarantie versteht – und dies ist wohl die Position der französischen Dogmatik, aber auch der EMRK, möglicherweise im Unterschied zur EuGRe-Charta – kann nur schwerlich zu einer der deutschen vergleichbaren Auffassung gelangen.
3. Gemeinsamkeiten und Unterschiede
Folgt man der hier vorgenommenen Darstellung und Zuspitzung, so lassen sich mehrere Folgerungen ziehen. Der Vergleich beider Positionen kann die Formulierung von Gemeinsamkeiten und Unterschieden deutlicher ausfallen lassen. Dies könnte zugleich die deutsche Position genauer klären und erklären.
Am Anfang ist festzuhalten: Aus den unterschiedlichen Grundannahmen folgen kaum grundlegende inhaltliche Differenzen hinsichtlich der Rechtsstellung Privater gegenüber anderen Privaten. Das gilt auch für den Schutz ihrer Freiheits- und Gleichheitsrechte im Verhältnis zu anderen Privaten. Hier sind nicht nur die Problemstellungen ähnlich, sondern auch die diskutierten Spektren von Lösungen. Weder in Deutschland noch in Frankreich gibt es die einzig richtige Zuordnung von Freiheits- und Gleichheitspositionen zwischen den Bürgern. Es bleibt in beiden Fällen ein viel betonter, wenn auch nicht immer ganz klar konturierbarer Entscheidungsfreiraum des Gesetzgebers.
Unterschiedlicher als die Ergebnisse mögen im Einzelnen deren Begründungen sein. Hier können in Deutschland infolge der Konstitutionalisierung der Rechtsordnung die Gründe einzelner Entscheidungen eher verrechtlicht sein. In Frankreich können sie demgegenüber eher politisch oder politiktheoretisch ausfallen. Solche unterschiedlichen Motive schlagen allerdings eher wenig auf die Ergebnisse durch.
Größere Differenzen können sich hingegen hinsichtlich der Zuständigkeitsordnung ergeben. Wer die Abgrenzung von Rechtssphären Privater für eine Aufgabe der gesetzlichen Freiheits- und Gleichheitszuteilung sieht, wird hier eher, wenn nicht allein, die Legislative in der Pflicht sehen. Herstellung und Erhaltung von Freiheitssphären und gesellschaftlicher Gleichheit liegt dann in der Zuständigkeit der Ersten Gewalt. Wer hingegen die mittelbare Drittwirkung der Grundrechte annimmt, sieht zwar auch primär die Legislative in der Pflicht. Doch binden die Grundrechte auch vollziehende Gewalt und Rechtsprechung, denen damit gleichfalls eigene Anteile an der Verwirklichung von Freiheit und Gleichheit zwischen Privaten zukommen. Es sind somit alle drei Gewalten, welche die Horizontalwirkung der Grundrechte zu realisieren berechtigt und verpflichtet sind. Unterschiede zwischen der französischen und der deutschen Position zeigen sich somit an ganz anderer Stelle, nämlich bei der Ausgestaltung der Gewaltenteilung. Und sie betreffen die durch die unterschiedlichen Gewalten vermittelten unterschiedlichen Formen der Legitimation staatlichen Handelns.
Der Aspekt der Gewaltenteilung zeigt einen weiteren Unterschied. Drittwirkung der Grundrechte eröffnet in Deutschland nicht nur spezifische Zuständigkeiten der Fachgerichte, sondern auch des Bundesverfassungsgerichts. Ihm kommt demnach das Recht der Überprüfung und ggf. Verwerfung von Gesetzen auch gegenüber solchen Normen zu, welche Rechtsbeziehung zwischen Privaten betreffen. Dies gilt explizit auch für das Zivilrecht. Dementsprechend steht dann der Verfassungsgerichtsbarkeit auch die Normenkontrolle gegenüber Gesetzen zivilrechtlichen Inhalts zu. Wer hingegen – wie in Frankreich – die Abgrenzung der Rechtssphären Privater in die weitgehend ungeschriebenen Rechtsfolgen der jeweiligen Grundrechte verlagert, bietet für eine verfassungsgerichtliche Überprüfung der einschlägigen Gesetze wenig Raum,. Die Verwirklichung der Menschenrechte ist dann eben eine demokratische, keine gerichtliche. Insoweit fände hier das Recht der Normenkontrolle – über deren gegenüber Deutschland allgemein schwächere Verwirklichung in der französischen Rechtsordnung hinaus – eine spezifische Grenze ratione materiae. Fokussiert ließe sich formulieren: Es geht um das letzte Wort in Freiheits- und Gleichheitsfragen: Wem steht es zu – dem Gesetzgeber oder einem Gericht? Für beide Positionen lassen sich Argumente finden. Das Gericht mag durch seine Zusammensetzung, sein Verfahren und seine Begründungspflichten ein höheres Maß an Berücksichtigung menschenrechtlicher Argumente gewährleisten. Umgekehrt kann man ein Parlament abwählen – ein Gericht nicht. Hier geht es also erneut um die Zuordnung von Menschenrechten und Demokratie.
Zusammenfassend lässt sich formulieren: In der hier vorgenommenen Darstellung zeigen sich die Unterschiede zwischen Deutschland und Frankreich weniger in größeren Differenzen zwischen den Inhalten der Rechtspositionen Privater. Sie zeigen sich vielmehr eher in den maßgeblichen Begründungen, Kompetenzen und Verfahren. Es geht weniger um das „Was“, sondern eher um das „Wer“ und das „Wie“.
III. Grundrechtsbindungen Privater im deutschen Verfassungsrecht: Mittelbare Drittwirkung und Schutzpflichtendogmatik
1. Staat oder privat?
Eine Vorfrage kann hier nur kurz gestreift werden: Ausgangspunkt aller Grundrechtsbindungen ist diejenige der öffentlichen Hände, die in Art. 1 Abs. 3 GG statuiert ist. Die Frage nach Grundrechtsbindungen Privater kann sich also nur stellen, wenn Pflichten von Rechtssubjekten begründet werden sollen, welche nicht in die Ausübung öffentlicher Gewalt eingeschaltet sind. Dass ein Rechtssubjekt in privatrechtlicher Form organisiert ist, ist ein Indiz, reicht aber im Zweifel allein nicht stets aus. Vielmehr gilt: Steht eine juristische Person des Privatrechts in staatlicher Trägerschaft und ist sie in deren Wahrnehmung öffentlich-rechtlicher Aufgaben eingeschaltet, so entsprechen ihre grundrechtlichen Pflichten denjenigen ihres Trägers, also der öffentlichen Gewalt. Auch wenn hier die Einzelheiten in jüngerer Zeit noch einmal in die Diskussion geraten sind – darauf soll hier nicht näher eingegangen werden –, so ist doch im Grundsatz wohl unbestritten: Grundrechtliche Pflichten Privater können nur dann entstehen, wenn diese Rechtssubjekte des Privatrechts sind und nicht in den staatlichen Aufgabenzusammenhang eingeschaltet sind.
2. Grundrechtsbindungen der Staatsgewalt versus Grundrechtsbindungen der Freiheit
Die verfassungsrechtliche Rechtsstellung dieser beiden Arten von Grundrechtsadressaten ist allerdings unterschiedlich.
Der Staat ist Träger der Staatsgewalt (Art. 20 Abs. 2 S. 1 GG), welche gem. Art. 1 Abs. 3 GG an die Grundrechte gebunden ist. Es gibt also keine Staatsgewalt ohne Grundrechtsbindung, oder anders ausgedrückt: In der grundgesetzlich konstituierten Staatsgewalt ist ihre Verfassungsbindung stets schon mitgedacht. Sie wird von der Verfassung konstituiert, ist verfassungsrechtlich begründet und daher an das Grundgesetz gebunden. Das gilt unabhängig von der Frage, ob man diesen Gedanken aus der Idee der Republik, des Verfassungsstaates oder des Rechtsstaates (G. Lübbe-Wolff) herleitet: Jedenfalls seitdem das Grundgesetz gilt, gibt es in Deutschland keine vor- oder außerverfassungsmäßige Staatsgewalt mehr. Insbesondere tritt das Grundgesetz nicht als bloße Grenze zur Staatsgewalt hinzu. Zentraler Ausgangspunkt der Grundrechtsbindung der Staatsgewalt ist die rechtliche Ungleichheit zwischen Staat und Bürger: Dem Staat steht die Staatsgewalt zu, der Grundrechtschutz hingegen nicht. Den Privaten steht demgegenüber der Grundrechtsschutz zu, die Staatsgewalt hingegen nicht. Die Rechte und Pflichten beider Seiten sind also einerseits einseitig: Die Staatsgewalt verpflichtet einseitig die Privaten, der Grundrechtsschutz hingegen einseitig den Staat. Und sie sind wechselbezüglich: Die Grundrechtsberechtigung der Bürger ist mit der Hypothek ihrer Subordination unter die Staatsgewalt belastet, die Staatsgewalt hingegen mit dem Preis ihrer Bindung an die Freiheits- und Gleichheitsrechte.
Ganz anders stellt sich der Ausgangspunkt der Grundrechtsbindung Privater dar. Diese sind nicht Träger öffentlicher Gewalt, sondern selbst Berechtigte der Freiheits- und Gleichheitsrechte. Prägend im Verhältnis grundrechtlicher Horizontalwirkungen ist also nicht die rechtliche Ungleichheit beider Seiten, sondern die rechtliche Gleichheit. Hinzu tritt: Freiheitsrechte sind prinzipiell Individualrechte; sie stehen nach dem Grundgesetz „Jedermann“ oder „allen Menschen“ zu. Und zwar nicht ihnen allen gemeinsam, sondern jedem Einzelnen von ihnen. Dementsprechend ist der Einzelne berechtigt, von seiner Freiheit den ihm angemessen erscheinenden Gebrauch zu machen. Er kann seine Freiheit nach eigenen Anschauungen leben, verwirklichen und ausdrücken. Keineswegs ist er darauf beschränkt, an der Verwirklichung allgemeiner gesellschaftlicher Freiheit mitzuwirken. In dieser Sichtweise ist die Freiheit des Einen kein Konstitutionselement der Freiheit des Anderen, sondern vielmehr deren Schranke. „Die Freiheitsverbürgung in Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG geht wie alle Grundrechte vom Menschenbild des Grundgesetzes aus, d.h. vom Menschen als eigenverantwortlicher Persönlichkeit, die sich innerhalb der sozialen Grenzen frei entfaltet. ... Dennoch kann die Kunstfreiheitsgarantie mit dem ebenfalls verfassungsrechtlich geschützten Persönlichkeitsbereich in Konflikt geraten.“ Als solche steht sie zudem nicht im Verhältnis der Einseitigkeit, sondern der Gegenseitigkeit: Die Staatsorgane sind nicht nur verpflichtet, die Freiheit des Einen zu achten und zu schützen; sie sind zugleich verpflichtet, auch die Freiheit des Anderen zu achten und zu schützen und – mehr noch – beide in bestmöglichem Umfang zu verwirklichen.
Dass die Zuordnung des rechtlich Verschiedenen nach anderen Grundsätzen erfolgen muss als diejenige des rechtlich Gleichen, ist ein in der Terminologie wie auch der Anwendung im Einzelfall bisweilen verschütteter Ausgangspunkt der deutschen Verfassungsrechtsdogmatik. Sie dürfte der Grund für die Redeweise von der „unmittelbaren“ bzw. „mittelbaren“ Grundrechtsbindung sein.
3. Freiheitsschutz durch Unterlassen oder durch Handeln? Von Drittwirkungen und Schutzpflichten
Unterschiedliche Grundrechtsverpflichtete können auch unterschiedlichen Grundrechtsverpflichtungen unterliegen.
In der Konfrontation zwischen Staatsgewalt und Freiheitsanspruch realisiert sich der Grundrechtsschutz vielfach in einem Schutz vor „Beschränkungen“ (Art. 10 Abs. 2 GG), „Einschränkungen“ (Art. 11 Abs. 2 GG) oder sonstigen „Eingriffen“ (Art. 13 Abs. 7 GG). Grundrechtsschutz findet hier am besten nicht dadurch statt, dass der Eingriff so oder anders ergeht; sondern dadurch, dass die Einschränkung unterbleibt. Das bestmögliche Maß an Freiheit realisiert sich dann durch staatliches Unterlassen, Grundrechtsschutz geschieht „in erster Linie“ durch Abwehrrechte, durch Unterlassungsansprüche. Deren rechtliche Logik liegt auf der Hand: Maßnahmen der Staatsgewalt, welche in Rechte Privater eingreifen, sind grundsätzlich zu unterlassen; es sei denn, sie sind im Einzelfall gerechtfertigt. Nur in diesem Fall und unter diesen Voraussetzungen dürfen sie vorgenommen werden. Die Logik solcher Unterlassungsansprüche liegt also in der Statuierung eines Regel-Ausnahme-Verhältnisses.
In der Konfrontation zwischen Freiheitsanspruch und Freiheitsanspruch realisiert sich der Grundrechtsschutz demgegenüber regelmäßig nicht derart einfach. Der Grund dafür liegt maßgeblich darin, dass die Abgrenzung von Freiheitsrechten regelmäßig durch die Rechtsordnung zu erfolgen hat. Ein Grundrecht begrenzt das andere nicht einfach durch seine bloße Existenz. Vielmehr bedürfen Inhalt und Ausmaß der Einschränkung einer Regelung durch die Rechtsordnung. Auch wenn hier der Gesetzesvorbehalt nicht stets in gleicher Weise gelten soll wie im Staat-Bürger-Verhältnis, so gilt doch: Diese Rechtsordnung kann nicht von den beteiligten Privaten selbst geleistet werden. Sie ist von einem Dritten, eben dem Staat, geschuldet – in welcher Form auch immer, durch Gesetzgebung, Vollziehung oder Rechtsprechung. Grundrechtsschutz zwischen Privaten bedingt damit stets ein rechtliches Dreieckverhältnis. Und er bedingt die Geltung einer Rechtsordnung. Diese ihrerseits kann aber nicht durch bloßes Unterlassen, sondern allein durch aktives Tun in Geltung gelangen. Grundrechtsbindung unter Privaten setzt demnach einen staatliches Verhalten voraus. In diesem Sinne realisiert sich Freiheitsschutz zwischen Privaten nicht als bloßer Unterlassungs-, sondern zugleich als Vornahmeanspruch gegen den Staat. Noch einmal zur Klarstellung: Regelmäßig erst dann, wenn der Staat eine freiheitskonforme Rechtsordnung erlassen hat, kann der Bürger gegen Dritte auch freiheitsschützende Unterlassungsansprüche geltend machen.
Der zuletzt genannte Gedanke wird in der staatsrechtlichen Dogmatik als Schutzpflicht bezeichnet. Ihr soll weitgehend ein grundrechtlicher Schutzanspruch entsprechen. Dieser Gedanke bestätigt ein weiteres Mal: Grundrechtsbindungen Privater kommen bei diesen auch in Deutschland nur ganz selten unmittelbar, regelmäßig hingegen vermittelt durch andere staatliche Rechtsakte an. Für unsere Fragestellung ist wichtig:
- Im Staat-Bürger-Verhältnis realisiert sich Grundrechtsschutz regelmäßig als Abwehrrecht gegen die öffentliche Hand.
- Im Verhältnis zwischen Privaten setzt Grundrechtsschutz regelmäßig einen Vornahme- oder Handlungsanspruch gegen den Staat voraus.
Solche Vornahmeansprüche unterliegen allerdings einer komplexeren Logik als die schlichten Unterlassungsansprüche. Dies kann sich schon darin zeigen, dass die Setzung eines freiheits- oder gleichheitsschützenden Rechtsaktes zugleich die Freiheit oder Gleichheit Anderer beschränkt. Und worauf dann dem Einen ein Handlungsanspruch zusteht, dagegen kann dann ggf. dem Anderen ein Unterlassungsanspruch zustehen. Maßgeblich ist im Einzelfall, ob ein grundrechtlich geschütztes Gut das andere derart überwiegt, dass sein Schutz auch zu dessen Lasten geboten oder zulässig erscheint. Schon wegen der Gleichheit der Rechtsstellungen beider Seiten kann es hier kein Regel-Ausnahmeverhältnis geben. Die Zuordnung und Abwägung ist damit rechtlich zumindest wesentlich komplexer.
4. Übermaßverbote
Was soeben in einzelnen Grundzügen angedeutet wurde, wird in der Verfassungsdogmatik durch die Redeweise vom Übermaßverbot, namentlich seinem Unterprinzip der Verhältnismäßigkeit, thematisiert. Diese Redeweise ist zum Teil geeignet, die Problematik auf einen angemessenen Begriff zu bringen. Zum Teil ist sie aber auch geeignet, die Problematik zu verdecken.
Das aus dem Polizeirecht stammende „klassische“ Übermaßverbot gilt im Staat-Bürger-Verhältnis, bezieht sich also allein auf die öffentlichen Hände als Grundrechtsverpflichtete. Hier geht es von der beschriebenen Konstellation des grundrechtlichen Unterlassungsanspruchs aus. Dabei stößt die öffentliche Gewalt auf das genannte Regel-Ausnahme-Verhältnis: Der Grundrechtsschutz Privater wird vorausgesetzt und ist verfassungsrechtlich statuiert. Im Normalfall sind grundrechtsbeschränkende Maßnahmen unzulässig. Dies gilt nicht, wenn im Einzelfall ein vorrangiger öffentlicher Belang durchgesetzt werden soll. In solchen Fällen bestätigt sich die genannte Regel: Es ist zu prüfen,
ob ein (legitimer) öffentlicher Belang verfolgt wird und
ob dieser im konkreten Fall vorrangig gegenüber der allgemeinen grundrechtlichen Schranke ist.
Die Prüfung erfolgt also auf Verfassungsebene zweistufig.
Durchaus anders gestalten sich die maßgeblichen Rechtsfragen, wenn nicht der Staat, sondern Private als Grundrechtsverpflichtete auftreten. Die rechtliche Gleichheit und Gleichrangigkeit der kollidierenden Rechtspositionen schließt ein Regel-Ausnahme-Verhältnis aus..Damit kann auch die geschilderte allgemeine Vermutung für die Freiheit – wessen Freiheit sollte das auch sein? – und die Prüfung eines vorrangigen Ausnahmetatbestandes im Einzelfall so nicht stattfinden. Hier kollidieren nicht Regel und Ausnahme, sondern Regel und Regel. Da beide Regeln rechtlich gleichrangig sind, ist ihr Verhältnis untereinander nicht einfach zu bestimmen. Das gilt insbesondere dann, wenn der Verfassungstext für mögliche Kollisionslösungen keine Anhaltspunkte bietet. Dann müssen allgemeine Regeln gefunden werden. Da diese aber im Grundgesetz kaum expliziert sind, müssen sie an das Grundgesetz herangetragen werden, zugleich aber ihrerseits mit dem Grundgesetz vereinbar sein. Als solche Regeln werden insbesondere genannt:
- der „Wert“ bzw. Rang einer Grundrechtsbestimmung im System der Grundrechte und des Grundgesetzes insgesamt,
- die Intensität der Betroffenheit der kollidierenden Grundrechte: Was bleibt von einem Grundrecht nach der Kollision bzw. der Kollisionslösung allgemein bzw. abstrakt noch übrig?
- die Intensität der Betroffenheit der kollidierenden Grundrechte im Einzelfall.
Dies sind nicht alle, sondern nur die wichtigsten Kollisionslösungsregeln. Eine Dissertation aus dem Jahre 1979 entnahm der Rechtsprechung insgesamt bereits ca. dreißig – und nicht nur die soeben genannten drei – Abwägungsformeln. Dies bedeutet im Klartext: Der maßgebliche Kollisionslösungsmechanismus ist im Staat-Bürger-Verhältnis dem Übermaßverbot grundgesetzlich vorgegeben (eben das Regel-Ausnahme-Verhältnis), im Bürger-Bürger-Verhältnis hingegen grundgesetzlich aufgegeben. Hier erfolgt die Prüfung einer Kollisionslösung also mindestens vierstufig dahin,
ob ein legitimer öffentlicher Belang verfolgt wird,
wie das Verhältnis des verfolgten und des beeinträchtigten Belanges zueinander rechtlich ausgestaltet ist, dies kann sowohl abstrakt auf Verfassungsebene als auch konkret im Einzelfall erfolgen,
ob das im Einzelfall zurücktretende Grundrecht nicht unverhältnismäßig beeinträchtigt wird, und
ob das im Einzelfall vorgezogene Grundrecht auch ausreichend geschützt ist.
Wir haben es bereits angedeutet: Die Prüfungsmaßstäbe bei grundrechtlichen Unterlassungsansprüchen sind andere als die bei grundrechtlichen Handlungsansprüchen. Dem BVerfG war dies von Anfang an bewusst. „Die gegenseitige Beziehung zwischen Grundrecht und (Schranke) ist also nicht als einseitige Beschränkung der Geltungskraft des Grundrechts durch die (Schranke) aufzufassen; es findet vielmehr eine Wechselwirkung in dem Sinne statt, dass die (Schranken) zwar dem Grundrecht Schranken setzen, ihrerseits aber aus der Erkenntnis der wertsetzenden Bedeutung dieses Grundrechts im freiheitlichen demokratischen Staat ausgelegt und so in ihrer das Grundrecht begrenzenden Wirkung selbst wieder eingeschränkt werden müssen.“ Es gibt Beobachter, die dies als doppelte Verhältnismäßigkeitsprüfung bezeichnet haben. Die dogmatischen Meilensteine der nachfolgenden Rechtsprechung heißen Schutzpflicht (und nicht bloß Schutzrecht des Gesetzgebers), praktische Konkordanz, Untermaßverbot und allseitiger Ausgleich involvierter Rechtspositionen im Wege einer allseitigen Verhältnismäßigkeitsprüfung. Die Aufgaben der Verfassungsrechtsprechung und ihre Grundsätze haben dadurch erheblich an Komplexität gewonnen. So muss das Gericht etwa prüfen,
- ob der Gesetzgeber zum Schutz eines Grundrechts gegenüber einem andere Grundrechtsträger nur berechtigt oder im Einzelfall sogar verpflichtet ist,
- ob zum Schutz eines Grundrechts gegenüber anderen Grundrechtsträgern strafrechtliche Sanktionen geboten, zulässig oder aber unzulässig sind,
- ob zum Schutz eines Grundrechts gegenüber einem anderen Grundrechtsträger Handlungsverbote oder aber nur Handlungsgebote, also Auflagen, zulässig und ausreichend sind;
- ob zum Schutz eine Grundrechts gegenüber einem anderen Grundrechtsträger zivilrechtlicher Schutz ausreichend ist oder aber auch öffentlich-rechtliche Vorkehrungen geboten, möglich oder aber gar unzulässig sind.
Die Liste ließe sich wahrscheinlich noch erheblich verlängern. Und mit der Komplexität der Aufgaben des Gerichts und der von ihm zu entwickelnden Abwägungsregeln steigt deren Kritikanfälligkeit. Tatsächlich ist es hier zu einigen Grundsatzkonflikten gekommen: etwa bei der hochgradig ethisch-religiös geprägten Debatte um Zulassung und Grenzen der Abtreibung; bei der eher politisch-demokratisch relevanten Zuordnung von Pressefreiheit und Persönlichkeitsrecht; bei der wirtschaftlich wie sozial wichtigen Ausgestaltung des Mietrechts und in jüngerer Zeit bei der Bestimmung der Reichweite des Antidiskriminierungsrechts im Verhältnis zwischen Privatpersonen. Das zuletzt genannte Beispiel zeigt uns aber schon: Hier hat das BVerfG noch keine grundsätzlichen Aussagen getroffen. Die Problematik ist eher vom Europarecht und dem europäischen Grundrechtsschutz überlagert. Wir sehen erneut: Unsere Fragestellung ist keine querelle allemande.
Das Ergebnis kann sich sehen lassen: Insgesamt hat das BVerfG eine in Grundfragen unumstrittene, hinreichend legitimierte Rechtsprechung zur Grundrechtswirkung zwischen Privatpersonen entwickelt. Dabei hat es zumeist eher die Anwendung und Auslegung des Gesetzesrechts durch Behörden und Gerichte korrigiert, nur eher selten hingegen den Gesetzgeber. Die relative Kompliziertheit der anzuwendenden Methoden war hier nicht stets ein Nachteil. Im Gegenteil: Sie hat dem Gericht auch ermöglicht, hinreichend flexibel auf Anforderungen des Einzelfalls oder politischer Krisenlagen zu reagieren.
Man kann also vom BVerfG und der an seiner Rechtsprechung entwickelten Dogmatik viel lernen, in anderen Staaten, auch in Frankreich und in Europa. Eine andere Frage ist natürlich, ob und inwieweit man dies auch möchte. Wer Grundrechte als Fundament der Demokratie und die Demokratie wesentlich als Grundrechtsverwirklichung sieht, mag ein höheres Vertrauen in die Leistungsfähigkeit von Gesetzgebung und Gesetzen bei der Ausgestaltung der grundrechtlich garantierten Freiheit haben. In Deutschland haben wir allzu lange die Grundrechte eher als Schutzwall gegen demokratische Mehrheitsentscheidungen gesehen und die Grundrechtsverwirklichung dann vorrangig den Gerichten überantwortet. Das deutsche System hat seine unbestreitbaren Stärken und große Leistungen gerade auch auf dem Feld der staatsrechtlichen Dogmatik hervorgebracht; aber eine vergleichende Betrachtung muss hinzufügen: Es ist nicht das einzig denkbare System; es ist ein Angebot von Verfassungsrecht und Verfassungsrechtsdogmatik, von dem man lernen kann, das man aber auch modifizieren kann. Und insoweit hat unser Thema tatsächlich einen spezifisch deutschen Zug.
IV. Grundrechtsbindungen Privater im internationalen und europäischen Recht
1. Die EMRK
Die breite deutsche Debatte zum Thema der Grundrechtsverpflichtungen Privater aus der EMRK folgt in ihren Grundzügen der neueren Dogmatik. Die älteren Schwierigkeiten der deutschen Debatte darüber, ob Grund- und Menschenrechte überhaupt Drittwirkung aufweisen könnten oder allein die öffentlichen Hände bänden, finden sich zur EMRK kaum. Sie soll auf Herstellung und Sicherung von Freiheits- und Gleichheitsrechten gerichtet sein – und zwar grundsätzlich in alle Richtungen.
Ausgangspunkt ist dort allerdings nicht die Vorstellung, dass Private selbst Grundrechtsadressaten sein könnten. Diese Vorstellung wird ganz überwiegend abgelehnt. Der vorherrschende Ansatz folgt vielmehr der Schutzpflichtendogmatik. Danach seien die Menschenrechte der Konvention nicht allein Abwehrrechte, sondern begründeten auch Vornahmeansprüche zur Sicherung und Durchsetzung von Freiheit und Gleichheit. In diesem Rahmen entstünden nicht allein Schutzpflichten gegenüber der öffentlichen Hand oder gegenüber Privaten, welche an die Aufgabenerfüllung der öffentlichen Hände mitwirken. Vielmehr könnten auch Schutzpflichten gegenüber Privaten entstehen, welche als Privatpersonen und damit grundsätzlich in Wahrnehmung ihrer Freiheiten und ggf. ihrer Konventionsrechte handelten. Inzwischen werden zahlreichen Konventionsgarantien derartige Schutzpflichten entnommen, deren Herleitung zahlreiche Parallelen zur Grundrechtsdogmatik des GG erkennen lässt.
Dieser Ausgangspunkt erfordert aber eine Folgenerwägung: Sind die knappen und traditionsreichen Formulierungen dem Konvention hinreichend in der Lage, nicht nur eine Abwägung zwischen individueller Freiheit und der öffentlichen Gewalt zu ermöglichen? Bieten sie auch hinreichend Anhaltspunkt für eine Zuordnung von Freiheiten untereinander? Ein Blick in die Rechtsprechung des EuGH, die eingangs angedeutet worden ist, aber auch in die Kommentierungen legt den Schluss nahe: Es gibt Ansätze einer Schutzpflichtenrechtsprechung, und es gibt auch erste Ansätze einer Schutzpflichtendogmatik. Deren Ergebnisse haben – nicht nur im Caroline-Fall – auch schon in die Bundesrepublik hineingewirkt. Dass ihre Ergebnisse in Deutschland auf Widerspruch gestoßen sind, kann dogmatische Unterschiede oder auch Einzelfehler aufzeigen. Aber aus jener Kritik lässt sich hingegen nicht der Schluss ziehen, dass es beim EGMR eine solche Dogmatik überhaupt nicht gebe. Allerdings betont der Gerichtshof zugleich die Grenzen seiner Nachprüfungskompetenz. Eine Gesetzgebungspflicht zum Schutz einer Freiheit gegen eine andere hat er – soweit ersichtlich – noch nicht bejaht. Jedenfalls nach der bisherigen Rechtsprechung kommt die menschenrechtlich vermittelte Freiheit bei ihren möglichen privaten Adressaten in der Form von Gesetzen und Gesetzesauslegung an. Insoweit wäre es gewiss zu weitgehend, von einer Rezeption der deutschen Dogmatik für den Geltungsbereich der Konvention zu sprechen. Die bisherige Rechtsprechung lässt vielmehr auch Raum für französisch geprägte Ansätze einer Ausgestaltung sozialer Freiheit durch die öffentlichen Hände.
2. Grundrechtecharta der EU
Hinsichtlich der EUGRe-Charta findet sich in der Literatur zu unserer Fragestellung starke Zurückhaltung. Da im Verfassungskonvent diesbezügliche Fragen nicht diskutiert worden sind und die Anwendung der Charta während ihrer kurzen Geltungsdauer noch kaum gesicherte Schlussfolgerungen zulässt, bleiben die Ansätze eher tentativ. Danach wird eine – wie auch immer geartete – Grundrechtsverpflichtung Privater am ehesten bejaht, wenn der Text einzelner Garantien dies erfordert oder jedenfalls nahe legt. Im Übrigen scheinen Verpflichtungen Privater eher abgelehnt und eher im Sinne einer Schutzrechtsdogmatik gedeutet zu werden: Danach sind die Mitgliedstaaten berechtigt, zum Schutz von Freiheiten der Charta andere Freiheiten einzuschränken. Verpflichtet sind sie dazu aber allenfalls in Extremfällen. Somit bleibt dieser Ansatz hinter der deutschen Schutzpflichtendogmatik ein wesentliches Stück zurück.
Allerdings ist auch nicht zu verkennen: Bei der Auslegung der EU-GReCh kommt ein zusätzlicher Aspekt hinzu, nämlich derjenige der Begrenzung ihres Anwendungsbereichs. Sie bindet ganz überwiegend die EU bzw. den Erlass und die Anwendung des EU-Rechts. Eine allgemeine Grundrechtsschutz- und -durchsetzungskompetenz der Union soll ebenso verhindert werden wie sonstige Kompetenzausweitung durch Grundrechtsschutz. Im Schatten dieser Leitidee stehen auch die Ausführungen zu den Grundrechtsbindungen – auch denjenigen von Privatpersonen.
V. Zusammenfassung
Die Grundrechtsbindung Privater divergiert in den europäischen Staaten erheblich. Das Meinungsspektrum reicht von der Bejahung einer unmittelbaren Drittwirkung bis zur Verneinung jeglicher Horizontalwirkung. Doch lassen umgekehrt Gesetze und Gerichtsurteile in den Staaten – mit aller gebotene Zurückhaltung wegen der Menge und der z.T. schweren Zugänglichkeit des Materials – erkennen: So unterschiedlich wie die Lehren zur Drittwirkung sind die Rechtsstellungen der Grundrechtsträger in den Staaten nicht.
Es geht weniger um das „Was“ als vielmehr um das „Wie“ und das „Wer“ der Ausgestaltung der Freiheit; konkret um den Primat des Gesetzes, die Rolle der Verfassungsgerichtsbarkeit und der gesetzesanwendenden Instanzen. Maßgeblich sind also nicht allein grundrechtliche Fragestellungen, sondern auch solche des Verständnisses von Demokratie und Gewaltenteilung. Hier gibt es unterschiedliche nationale Traditionen, Perspektiven und Standards. Eine französische Position zu unserem Thema ist von einer hohen Einschätzung der Leistungsfähigkeit demokratisch-parlamentarischer Menschenrechtsverwirklichung geprägt.
Dagegen ist die deutsche Sichtweise maßgeblich aus der Position des BVerfG und der Hochschätzung justizieller Rechts- und Freiheitsgewährleistung beeinflusst. Umgekehrt ist – konsequent – der Stand der Verfassungsdogmatik in Deutschland ein höherer als in Frankreich: Schutzpflichten (statt bloßer Schutzrechte), Untermaßverbot, praktische Konkordanz und doppelte Verhältnismäßigkeitsprüfung klingen nach französischem Verständnis eher fremd. EGMR und EuGH scheinen sich eher auf einem Mittelweg zu bewegen, welcher tentativ nach angemessenen Bindungs- und Zuordnungsmechanismen sucht, aber gewiss können beide nicht für sich in Anspruch nehmen, den richtigen Weg bereits gefunden und vermessen zu haben.
Im Falle Deutschlands und Frankreichs ließe sich vermuten: Die Abgrenzung der Freiheiten Privater durch Parlamente und Gesetze verläuft – je nach Mehrheitsverhältnissen – sprunghafter und divergenter, spannungsgeladener und krisenhafter. Dieselbe Aufgabe, vorgenommen von Gerichten, verläuft kontinuierlicher. Aber wenn hier – gewiss seltener – Krisen auftreten, ist mehr in Gefahr als nur die Ausgestaltung der Drittwirkung von Grundrechten.
Pour citer cet article :
Christoph Gusy « Grundrechtsbindungen Privater », Jus Politicum, n°10 [https://juspoliticum.com/articles/grundrechtsbindungen-privater-735]